Sonntag, 18. September 2022

Parallelen zu den 1970er-Jahren: Was die Inflations-Historie lehrt | Video

 


Parallelen zu den 1970er-Jahren: Was die Inflations-Historie lehrt

Nur die Währung verrät, dass es sich um einen TV-Beitrag aus dem ARD-Archiv handelt. Diese Einordnung könnte von Bundeskanzler Olaf Scholz stammen: "Die Energiekrise trifft alle Länder der westlichen Welt." Es sind aber die Worte des früheren Kanzlers Willy Brandt, ebenfalls SPD, mit denen er im November 1973 für den "autofreien Sonntag" wirbt. 



Die Preise in Deutschland steigen rasant - wie vor einem halben Jahrhundert. Wo sind die Parallelen zwischen der heutigen Teuerung und der Inflation von damals? Uns was ist jetzt anders? 

Gleich mehrere Parallelen 

Die Parallelen zwischen den 1970er-Jahren und heute liegen für Wirtschaftsprofessor Peter Tillmann von der Universität Gießen auf der Hand. "Damals vervierfachte sich der Ölpreis; jetzt der starke Preisanstieg vor allem beim Gas." Wie damals gebe es diesen Preisschock auf der ganzen Welt: die nächste Parallele.

An die Ölkrise und die damalige Preisexplosion kann sich Eberhard Flammer noch gut erinnern. Er war damals 20 Jahre alt und absolvierte gerade eine Banklehre. Der Preis an der Zapfsäule habe sich innerhalb weniger Tage auf mehr als eine Mark verdoppelt. Der Preis für den Liter Heizöl, kramt er in seinem Gedächtnis, stieg von rund zehn Pfennig auf 60 Pfennig. Wer nur noch wenig Öl im Tank gehabt habe, habe die Heizung ausgeschaltet.

Die Gesellschaft habe damals mit Trotz darauf reagiert: "Die Ölgötzen im Nahen Osten wurden zum Feindbild. Sollen sie doch ihr Öl essen und trinken, wir nehmen es ihnen nicht mehr ab", beschreibt er die damalige Stimmung. Ob die deutsche Gesellschaft jetzt ähnlich reagiert, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.

Lerneffekt bei Notenbanken

Die steigenden Energiepreise haben seinerzeit die Inflationsrate auf immer neue Rekordwerte getrieben. Im Dezember 1973 lag die Preissteigerung bei 7,9 Prozent - und damit genau so hoch wie im vergangenen Monat. Damals wie heute ist Konsens in der Wirtschaftswissenschaft: Es ist bei starken Preisanstiegen die zentrale Aufgabe und in der Macht einer Notenbank, über höhere Zinsen die Inflationsrate zu drücken. Erst über die Frage des richtigen Zeitpunkts und der Höhe der Zinsschritte gehen die Ansichten schon immer auseinander.

Experte Tillmann sieht in der historischen Erfahrung einen Vorteil für die Gegenwart. Damals habe sich in den USA und Europa gezeigt, dass ein zu zögerliches Vorgehen zu noch größeren Problemen führe. "Zumindest die amerikanische Notenbank hat ihre Lektion gelernt", so Tillmann. Von der Europäischen Zentralbank (EZB) verlangt er ein entschlossenes Vorgehen. Die EZB hat in der vergangenen Woche die bislang größte Zinserhöhung in ihrer Geschichte beschlossen und den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf 1,25 Prozent hochgesetzt.

Kehrt Massenarbeitslosigkeit zurück?

Steigende Zinsen sind allerdings Gift für die wirtschaftliche Entwicklung und können die Arbeitslosenquote nach oben treiben. Genau das ist vor rund 50 Jahren passiert, als die Zahl der Arbeitslosen in kürzester Zeit von 273.000 (1973) auf 1,1 Millionen (1975) explodierte.

Hier besteht der größte Unterschied: Statt Personalabbau sind inzwischen demographischer Wandel und Fachkräftemangel die großen Themen. Bestes Beispiel dafür ist der ehemalige Banklehrling Eberhard Flammer, der seit Jahrzehnten einen Zulieferbetrieb für die Automobilindustrie mit weltweit 1300 Beschäftigten leitet. Mit großem Aufwand habe er in den vergangenen Jahren aus- und weitergebildet, sagt der Mittelständler. 

Die Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit scheint nicht ausgeschlossen - eine beunruhigende Erkenntnis in diesen Zeiten. Doch ist die Inflation gekommen, um zu bleiben? "Die Krise, an deren Anfang wir erst stehen, ist nicht zu verharmlosen." Die Einschätzung von Willy Brandt könnte Olaf Scholz heute wohl wortgleich wiederholen.