Samstag, 11. März 2023

''9/15'' - die Lehman-Pleite: Was damals wirklich geschah

 



Die Pleite der US-Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 war die größte Pleite eines Unternehmens, das die Welt je gesehen hat - zehnmal größer als die des US-Energieriesen Enron im Jahr 2001.

Die Folge war der Absturz der Aktienmärkte. Weltweit brachte der drohende Run auf die Banken das globale Finanzsystem an den Rande des Kollaps.

Doch was war passiert?

Ein erstes Vorbeben erschütterte am 16. März 2008 die New Yorker Wall Street. Die fünftgrößte US-Investmentbank Bear Stearns musste vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Die Folge war eine sogenannte Todesspirale:

Kreditgeber drohten damit Kreditlinien abzudrehen, an der Börse brach die Panik aus und erstmals war die Rede davon, dass Lehman Brothers das nächste Opfer sein könnte.

Bei Lehman Brothers wollte man davon nichts wissen. Als im Sommer 2007 der US-Hypothekenmarkt einbrach und erstmals von einer Kreditklemme die Rede war, protzte man bei Lehman weiter damit, bestens gerüstet zu sein.

Erste Quartalsverluste in Milliardenhöhe bei Merrill Lynch und Morgan Stanley wurden höhnisch kommentiert. Als auch die eigenen Zahlen einbrachen, wurde die Zuverlässigkeit des Risikomanagements betont.

Andrew Gowers, ehemaliger Kommunikationschef von Lehman, bezeichnet ihn als den "Mann, der die Welt in die Knie zwang": Richard Fuld, den letzten Lehman-Chef. Gowers charakterisiert ihn als "Mann mit einer fast unerträglich starken Persönlichkeit".

Doch sein Führungsstil enthielt die "Saat des Desasters". Niemand wagte es, sein Urteil in Frage zu stellen, Fuld suhlte sich in fataler Selbstzufriedenheit.

Anstatt das Risikomanagement tatsächlich zu kontrollieren, musste sich die Lehman-Spitze in endlosen Sitzungen mit Fragen der Kleiderordnung beschäftigen.

"Ich denke, der Vorstand hatte Angst mit jenen Leuten in Kontakt zu treten, die Dinge wie Finanzderivate wirklich verstanden. Sie fürchteten wohl dabei ertappt zu werden, keine Ahnung davon zu haben", sagt der ehemalige Lehman-Vizedirektor Larry McDonald.

Als Michael Gelband, Chef der Abteilung "Kommerzielle und Wohn-Immobilien", Fuld bereits 2006 darauf hinwies, dass der US-Immobilienmarkt eine überbewertete Blase sei, musste er sich sagen lassen: "Du bist zu konservativ".

Ein Jahr später verließ Gelband, der den drohenden Finanz-Eisberg erkannte, das sinkende Lehman-Schiff.

Tatsächlich verhob sich Lehman vor allem an den beiden Steckenpferden von Fuld-Stellvertreter Joseph Gregory: Unternehmensbeteiligungen und Gewerbeimmobilien. Aber man gab sich nicht zufrieden, Fusionen und Übernahmen zu makeln.

So besaß Lehman immer mehr "illiquides Zeug", das schwer zu verkaufen war. Der Bestand an Immobilien war gewaltig, barg aber enorme Gefahren für die Bilanz.

Zudem war Lehman Brothers tief in das Geschäft mit "Credit Default Swaps" (CDS), also Versicherungen gegen Kreditausfälle, verstrickt.

Den Weg dieses "genialen" Finanzprodukts hatte unter anderem US-Notenbankchef Alan Greenspan geebnet, der von CDS begeistert war.

Doch das Konstrukt wandte sich gegen seine Erfinder.

Lehman war bei der Verbriefung von Finanzprodukten dieser Art führend. Kreditrisiken wurden in Form von "Collateralized Debt Obligations" (CDO's) verbrieft und zu Wertpapieren gemacht. Sie wurden an Großkunden verkauft und galten als risikolos.

So verteilte Lehman seine Risiken in alle Welt.

Eine wesentliche Rolle spielte dabei der weltgrößte US-Versicherer AIG. Doch auch verbriefte - also verteilte und versteckte - Risiken bleiben Risiken.

Das Problem war: AIG hatte nicht annähernd genug Geld, um für die tatsächlich ausfallenden Kredite zu haften.

Als die Immobilienkrise ihre volle Wirkung entfaltete (Hausbesitzer konnten ihre Darlehen nicht bedienen, die Häuser verloren rapid an Wert), rächte es sich, dass Lehman alle Vorsicht hatte fallen lassen.

Der vermeintlich immer wachsende Immobilienmarkt hatte Lehman über Jahre gigantische Gewinne beschert. Und außer Gelband - der seinen Job verlor - hatte es niemand gewagt, Zweifel an der "Cash-Cow" zu äußern.

Lehman begann damit Risikopapiere, vor allem Immobilienpapiere zu verkaufen, um an Geld zu kommen. So wurde aus Buchverlusten ein Verlust an Geld. Das war es auch, woran die Bank letztlich zugrunde gehen sollte: an mangelnder Liquidität.

Obwohl bei Lehman die Zeitbomben schlummerten, erzählte Fuld noch im April den Aktionären: "Das Schlimmste haben wir hinter uns". Laut Ex-Kommunikationschef Gowers verstand Fuld nicht, in welch ernster Lage sich seine Bank befand.

Mitte Juni musste ein Quartalsverlust von 2,8 Milliarden Dollar bekannt gegeben werden. Die graue Eminenz Joseph Gregory wurde geopfert - Fuld feuerte ihn, als es hieß: Fuld oder Gregory.

Laut Spiegel ist der Fall des Traditionshauses Lehman aber auch gleichzeitig die Geschichte eines Duells zweier Männer: Das Duell zwischen Fuld und Henry Paulson, Finanzminister der Regierung Bush.

Denn Paulson war als Chef der US-Bank Goldman Sachs jahrelang erbitterter Feind von Fuld, ehe er im Juli 2006 Finanzminister wurde.

"Es ist Krieg. Wir gegen sie". So redete Fuld laut "Spiegel". Fuld hasste demnach Paulson und Goldman Sachs.

Weiterer Kriegssprech: Die Lehman-Zentrale war das "Mutterschiff", die Zweigstellen waren eine Flotte von Zerstörern.

Doch die Sprache des Krieges kam nicht gegen die Sprache der Zahlen an. Im dritten Quartal musste Lehman einen Verlust von 3,9 Milliarden Dollar hinnehmen.

Die letzten Tage des Traditionshauses Lehman Brothers waren eingeläutet.

Am Freitagabend des 12. Septembers bestellt Finanzminister Paulson alle Größen der Wall Street in die New Yorker Zentralbank. Richard Fuld ist nicht eingeladen.

Paulson sagt laut "Spiegel": "Jeder von uns ist durch Lehman gefährdet." Was soll also mit der Bank geschehen? Darüber beraten die mächtigen Männer in den nächsten 48 Stunden.

Kurz zuvor hatte die US-Regierung den beiden halbstaatlichen US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac finanziell unter die Arme gegriffen. Ein Bankrott hätte einen Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes mit unabsehbaren Folgen bedeutet.

In der Bevölkerung kippte die Stimmung: Das Verständnis für die Rettung einer weiteren Bank mit Staatsgeldern war gering.

Der damalige New Yorker Fed-Chef und nunmehrige Finanzminister Timothy Geithner stellt daher klar: "Diesmal wird es keine öffentlichen Gelder für eine Bankrettung geben".

Am 13. September sieht es so aus, als wäre eine Lösung gefunden: Jede der anwesenden Banken ist bereit jeweils eine Milliarde in die Hand zu nehmen, um Lehman doch noch zu retten. Es geht um insgesamt rund 10 Milliarden.

Doch am Sonntag, dem 14. September ist wieder alles anders. Die Bank of America springt ab, weil sie nicht ohne Regierungshilfe kaufen kann.

Schließlich läuft alles auf einen Kauf durch die britische Bank Barclays hinaus - ein Deal scheint gefunden. Als die US-Regierung eine Garantie in Höhe von 70 Milliarden Dollar verweigert, springen auch die Briten ab.

Der Untergang des Hauses Lehman ist besiegelt.

Um 22 Uhr erhält Insolvenzverwalter Bryan Marsal einen Anruf. In der Leitung ist ein Mann von Lehman. Er erklärt: "Lehman Brothers wird morgen früh Insolvenz anmelden. Wir wollen Sie als Sanierungsvorstand".

Marsal fragt: Wie viel Cash ist noch da? "Gar nichts". Vorbereitungen auf den Konkurs? "Das ist der erste Anruf, Sie sind unser Vorbereitung".

Die Folgen sind bekannt: Die Finanzwelt stand am Rande des Abgrunds. Das Vertrauen war weg, Banken liehen sich kein Geld mehr.

Es herrschte Chaos pur: Weltweit waren Banken, Versicherungen, Hedge-Fonds und Pensionsfonds mit Lehman verwoben. Das weltweite Computer-System von Lehman wurde unbrauchbar als 900.000 Derivate-Kontrakte offen waren.

Niemand hatte für möglich gehalten, dass die US-Regierung eine Finanzinstitution in der Größe Lehmans sterben lassen würde. Für tausende Mitarbeiter hieß es, ihre Sachen zu packen.

Wenige Tage nach der Insolvenz arbeiteten nur noch 170 Mitarbeiter für Lehman Brothers. 24.988 Mitarbeiter wurden unter Insolvenzverwalter Bryan Marsal innerhalb weniger Tage gekündigt.

Am 22. September erlaubt ein New Yorker Konkursgericht die Übernahme der Filetstücke Investmentbanking und Wertpapierhandel durch die britische Bank Barclays. Der Preis liegt bei 1,75 Milliarden Dollar.

Und so prangt heute auf dem ehemaligen Lehman-Hauptquartier an der 745 Seventh Avenue in New York das Blau der britischen Bank Barclays.

"Für mich repräsentiert das die Flagge eines Gauklers, eines blassen Ersatzes des verwegenen Banners, das für 158 Jahre über dem Eingang der größten Investmentbank wehte, die die Wall Street je gesehen hat: Lehman Brothers".

Das schreibt Ex-Lehman-Vizedirektor Larry McDonald zornig in seinem Buch "A Colossal Failure of Common Sense".


Quelle: https://www.diepresse.com/503750/915-die-lehman-pleite-was-damals-wirklich-geschah#slide-31